Die wilden Bahnen im Winterschlaf

Mit ihren Bahnen sorgen sie für Adrenalin und Jubelschreie auf den Schweizer Chilbiplätzen. In den Wintermonaten ist die Schaustellerfamilie Jolliet mit den Revisionsarbeiten an ihren Bahnen «Pegasus» und «Maxximum» beschäftigt. Ein Einblick in ein Leben auf Achse.

Wie zwei Ungeheuer im Winterschlaf präsentieren sich die beiden Bahnen in der Halle im Industriegebiet Mooshof Grosswangen. Die stählernen Arme liegen zusammengefaltet auf einem Lastwagenanhänger. Die farbigen Glühbirnen sind ausgeschaltet, einige Teile stehen unter einer Plane eingepackt da. «Jetzt ist Revisionszeit für die Bahnen», sagt Jean-Marc Jolliet, der die Fahrgeschäfte mit seiner Familie betreibt. Sein Schwiegersohn ist daran, die Zylinder der beweglichen Sitzreihen auszuwechseln. «Eine neue Vorschrift», sagt Jolliet, «das kostet uns rund 30 000 Franken». Bis im Frühjahr die Saison wieder startet, stehen noch zahlreiche andere Arbeiten an. Teile reinigen, schmieren, wo nötig neue Anstriche machen. Eine Gondel musste zur Wartung in die Herstellerfirma nach Holland gebracht werden.

Im Winter stehen zahlreiche Revisionen an den Fahrgeschäften an.

Mit 100 km/h kopfüber auf 52 Meter Höhe 

Während der Saison verwandeln sich die Stahlkolosse in bunt blinkende Bahnen, deren Arme wild herumwirbeln. Sie heissen «Pegasus» und «Maxximum». Letztere wirbelt die Gäste mit über 100 km/h und einer Beschleunigung von 5G auf 52 Meter Höhe, die Gondel dreht über Kopf zusätzlich um 360 Grad – Adrenalin pur. Die Bahn sorgt für Aufsehen an zahlreichen Anlässen im Land. «Wir sind oft die Hauptattraktion an einer Kilbi», so Jean-Marc Jolliet.

Schon seit vielen Jahren zieht der 62-Jährige zusammen mit seiner Frau Brigitte (61) durch die Schweiz, mit dabei sind auch Tochter Géraldine (35) und deren Partner Michaël (37). Rund 20 Anlässe besuchen sie jedes Jahr, darunter grosse Events wie die Olma, Bea oder die Luga. Dort stehen die Fahrgeschäfte auch mal zwei Wochen. Viele Kilbis dauern dagegen nur drei Tage – das bedeutet viel Arbeit beim Zügeln. Für die Maxximum-Bahn braucht es einen Schwertransporter und zwei weitere Lastwagen, die das 92-Tonnen-Ungetüm transportieren. Und bis zu vier Personen sind zwei Tage lang mit dem Aufbau beschäftigt.

Ein Leben auf Achse

Das Schausteller-Leben folgt diesem Rhythmus während einem grossen Teil des Jahres. Hinfahren – Aufbauen – die Bahnen fahren lassen – Abbauen – und weiter zum nächsten Ort. Manchmal parkieren die Gefährte dazwischen für ein paar Tage in Grosswangen. Dort wo sie wie jetzt auch im Winter stehen, ebenso wie die beiden Wohnwagen der Familie Jolliet. Drinnen im gemütlich eingerichteten Heim auf vier Rädern erzählen sie über das Leben auf Achse. Jetzt im Winter könne man es etwas gemütlicher angehen. Trotzdem gibt es immer etwas zu tun. Nebst den Unterhaltsarbeiten steht auch mal ein Fabrikbesuch bei einem Bahnenhersteller in Italien auf dem Programm. Oder Besuche von Freunden oder Verwandten.

Die Familie hat die Schaustellerei im Blut: Hinten Jean-Marc und Brigitte Jolliet, vorne Tochter Géraldine mit Partner Michaël Modoux. 

Während der Saison ist die Zeit dafür knapp, die Tage bis zu 16 Stunden lang. Definitiv kein Beruf für jedermann. Jean-Marc Jolliet sagt denn auch mit einem Schmunzeln, es sei eigentlich sein Hobby. Wäre es sein Beruf, würde er denken: «Ja spinne ich, soviel zu arbeiten»? Doch die Berufung scheint der Familie in die Wiege gelegt. Brigitte Jolliet stammt aus der Schausteller-Familie Zanolla, der Rumm­elplatz war sozusagen ihr Spielzimmer. 1982 lernte sie in Lausanne ihren späteren Mann kennen, der dort für eine andere Schausteller-Familie arbeitete. Fun Fact: auf dem gleichen Chilbiplatz lernte später Tochter Géraldine ihren Partner Michaël kennen.

1991 startete das Ehepaar Jolliet mit ihrem ersten eigenen Fahrgeschäft, einem Kinderkarussell. Seither betrieben sie schon verschiedenste Bahnen. Immer dazu gehörte die über 50-jährige Schiessbude «Treffpunkt». «Mein Familienerbstück», sagt Brigitte Jolliet, «ich pflege sie und führe die Tradition weiter». Dahinter stecke viel Herzblut, denn: «Eine Schiessbude zu betreiben ist kein Schoggijob.»

Die Angst vor einem Defekt

Über die Saison hat die vierköpfige Familie zusätzlich 5 Angestellte, die beim Transport und Betrieb der Bahnen mithelfen – ein KMU-Betrieb, der viele Kosten mit sich bringt. «Viele sehen nicht, welcher Aufwand dahintersteckt», sagt Jean-Marc Jolliet. Löhne, Strom, Ersatzteile – vieles sei teurer geworden in den letzten Jahren. An grossen Anlässen bezahle man über 10 000 Franken Standgebühren. Viel Geld, das zuerst wieder eingespielt werden muss. Letztes Jahr hat man die Fahrpreise deshalb leicht erhöht. 13 Franken kostet eine Fahrt auf Maxximum, das sei gerechtfertigt, findet Jolliet. Wer einmal mitgefahren sei, bereue das nicht. 

Nur etwas für die ganz Mutigen: Auf der Bahn Maxximum geht es kopfüber mit 100 km/h auf 52 Meter Höhe.

Immer mit schwingt die Angst vor einem Defekt. Ein Elektronik-Ausfall könnte die Einnahmen von einem ganzen Wochenende zunichtemachen. Doch auch wegen der Sicherheit der Gäste hat die Wartung der Bahnen höchste Priorität, noch nie gab es einen Unfall. «Die Sicherheit der Fahrgäste ist unser ganzes Kapital.» Die beiden Bahnen sind wertvoll. Maxximum, die grössere der beiden Bahnen, kostet über 2 Millionen Franken, Pegasus etwa die Hälfte.

«Wir bringen Freude in eine Stadt»

Trotz vielen Herausforderungen – geblieben ist die Faszination der Familie für die Schaustellerei. «Ich habe dieses Leben im Blut», sagt Brigitte Jolliet. «Wenn alles rund läuft, die Musik tönt, viele fröhliche Leute kommen, dann kann ich meine Batterien aufladen.»

Volksfeste seien immer noch gefragt, glaubt sie, so bringe der Rummelplatz Freude in eine Stadt oder in ein Dorf. «Viele Leute freuen sich extrem auf uns.» Zudem seien die Bahnen eine Attraktion für jung und alt. Wer nicht selber mitfahre, komme als Zuschauer und geniesse die kreischenden Fahrgäste. Sie erinnert sich freudig an eine Gruppe älterer Frauen, zwei davon entschieden sich spontan für eine Fahrt auf Pegasus und ernteten nachher Applaus von den Zuschauenden. Und letztes Jahr kam ein 92-jähriger Mann vorbei, ein ehemaliger Kampfjet-Pilot, um auf der wilden Maxximum-Bahn mitzufahren. Er sagte zu Brigitte Jolliet an der Kasse: «Auch wenn ich sterben muss, ich will da mitfahren». Solche Erlebnisse würden ihr einen richtigen Boost geben.

Die Fahrgeschäfte der Familie Jolliet werden zurzeit revidiert und für die nächste Saison vorbereitet. 

Auf den wilden Bahnen nehmen mehr Frauen als Männer Platz, beobachtet Brigitte Jolliet. Diese seien mutiger, lautet ihre etwas überraschende Aussage. Ab und zu fragen Gäste nach einer besonders wilden Fahrt. Ist wenig los, kommt sie diesem Wunsch auch mal nach und lässt die Gondeln noch fester herumwirbeln. Wirklich übel wird es einem Fahrgast nur selten. Man wolle ja, dass sie möglichst wiederkämen, sagt Brigitte Jolliet. Sowieso sei die Bahn Maxximum zwar «heftig», aber wegen der weiten Kreise «keine Kotz-Maschine».

Sogar die erste Mannschaft des FC Basel fuhr schon mit

Und dann gibt es die ganz extremen Fans. Sie reisen den Schaustellenden nach und besuchen praktisch jeden Kilbi-Platz. So wie Hanspeter, ihn kenne jeder Schausteller. Überkopf-Bahnen seien sein Hobby. Ganze 855 (!) Mal fuhr er letztes Jahr auf Pegasus mit, als Stammgast bezahlt er einen Spezialpreis.

Viele Erinnerungen hat Brigitte Jolliet auch an Prominente. So liess sich schon die ganze Mannschaft des FC Basels in den Himmel schleudern, ebenso die Band Gotthard, Wendy Holdener oder Wetterfrosch Thomas Bucheli. Und die Gebrüder Yakin besuchten ihre Schiessbude: «Die haben geschossen wie die Weltmeister und beim Büchsenschiessen alles abgeräumt.»

Nicht nur viele Bekanntschaften sind Lohn der Schaustellerei, auch lerne man die Schweiz gut kennen und logiere immer wieder in anderen Städten oder Dörfern, sagt Jean-Marc Jolliet. Gehe die Energie nach ein paar Tagen oder Wochen Fahrbetrieb zu Ende, könne man wieder wegziehen und an einem anderen Ort wieder voller Elan starten.

Unsichere Zukunft

Die Familie schwärmt für das Schaustellerleben. Tochter Géraldine Jolliet sagt, sie könne sich kein anderes Leben vorstellen. Dies trotz vielen Unsicherheiten in der Branche. Schon Corona sei einschneidend gewesen, plötzlich fehlten Auftrittsmöglichkeiten oder Ersatzteile wurden nicht mehr geliefert. Auch für die Zukunft sehe es nicht sehr rosig aus, glaubt sie. Immer mehr und verschärfte Auflagen der Behörden, zu Grünflächen verwandelte Parkplätze oder fehlender Platz wegen zusätzlich gepflanzten Bäumen – das Business sei viel härter geworden und Anlässe hätten es immer schwieriger. Trotzdem wolle man dafür kämpfen, dass die Schaustellerei und damit eine Familientradition nicht verschwinde. Und so wird die ganze Familie dann im Frühling wieder «kribbelig», wenn der grosse Tross mit den zahlreichen Lastwagen und Wohnwagen loszieht auf die Rummelplätze der Schweiz.