In einer Chong-Do-Probelektion lernt Redaktor Stefan Schmid, wie viel Körperbeherrschung in den Bewegungen steckt und dass Kampfsport nichts mit Gewalt zu tun hat.
Bevor ich an diesem Abend überhaupt den ersten Kick wage, bringt Lehrer Markus Fedrizzi Ordnung in mein Kampfsportwissen. In meinem Kopf schwirren seine Worte herum wie ein wirbelnder Ninja-Kämpfer. Denn Kampfsportarten gibt es unzählige. Aus Japan stammen Judo, JiuJitsu, Karate oder Aikido. Koreanische Wurzeln haben Hapkido und Taekwondo. Chinesisch sind Kung Fu oder Tai Chi. Die Unterschiede liegen in der Technik – also ob eher Würfe oder Schläge eingesetzt werden, in der Philosophie – mal Selbstverteidigung, mal Wettkampf, mal spirituelle Entwicklung, und in der Herkunft. Als ob das nicht schon kompliziert genug wäre, hat der Ruswiler Markus Fedrizzi mit Chong-Do ein eigenes Kampfsystem entwickelt. Bei dieser koreanischen Kampfkunst werden Elemente aus Hapkido und Kung-Fu kombiniert.
Nach all diesen Erklärungen merke ich: bei meinem Auftrag, eine japanische Kampfsportart auszuprobieren, bin ich schon mal zu Boden gegangen. Lehrer Fedrizzi verzeiht mir jedoch das asiatische Durcheinander. Und ich hoffe, dass ich in der Probelektion einen besseren Eindruck hinterlasse als bei meiner Recherchearbeit.
Als Erwachsener im Kindertraining
Und so stelle ich mich in die Reihe der jungen Kampfsportler. Sie sind halb so gross und doppelt so beweglich wie ich. Der Chong-Do-Verein trainiert an zwei Standorten. In Emmen sind auch Erwachsene mit dabei, in Ruswil ausschliesslich Kinder, einige erst gerade 6 Jahre alt. Ausnahmsweise darf ich mich für ein Training, das wegen der Wärme draussen stattfindet, dazugesellen.
Zuerst machen wir ein Aufwärmtraining mit Schrittabfolgen, einfachen Kickbewegungen und Drehungen. Was der grosse Meister vorzeigt, sieht locker aus. Bein anheben, Hüfte abdrehen, Kick aus dem Fussgelenk, Fuss gestreckt, so das Kommando. Ich gerate schon bei dieser einfachen Übung aus dem Gleichgewicht, rudere etwas hilflos mit den Händen und stelle mir vor, wie sich ein Gegner so vor mir fürchten sollte. Eher bekäme er wohl einen Lachanfall.
Nach dem Aufwärmen frage ich mich; das soll Kampfsport sein? Die Übungen erinnern mich eher an meine ungelenken Schritte damals im Salsa-Tanzkurs. Doch nach einer Trinkpause geht’s endlich mehr zur Sache. Jeweils in Zweierteams werden Schläge geübt. Einer kickt, der andere bremst die Energie mit einem dicken Polsterschild ab. Ich darf beim Meister, auch Kyosa genannt, selber ran. Fuss vor – anderes Bein hoch – drehen – strecken – Kick mit dem Fussrist – Zack – Schritt vor. Tönt einfach, ist aber schwierig. Mal bin ich zu nahe am Ziel, dann wieder zu weit weg. Oder ich nehme die Arme zu Hilfe, die bei dieser Übung unten bleiben sollen. Doch passt für einmal alles zusammen, fühlt es sich richtig gut an. Wie ein gelungener Golf-Abschlag auf der Driving Range.

In meinen Erinnerungen sehe ich Andy Hug. Der vor 25 Jahren verstorbene Kickbox-Champion war in Japan ein Megastar. Er entzückte die Massen mit seinem Fussschlag von oben auf die Schulter des Gegners. Diesen Schlag gäbe es auch im Chong-Do, sagt Fedrizzi. «Ddwidgumchi Gaanaerigi» heisst der Andy-Kick. So kompliziert sein Name, so schwierig wohl die Ausführung. Wie man sein Bein so hoch nach oben bringt, kann ich mir nicht vorstellen und verzichte gerne auf einen Versuch.
«Hat mit Gewalt gar nichts zu tun»
«Du musst lernen zu fliessen wie ein Fluss», sagt mein Gegenüber bei den Übungen. Statt abgehackte Bewegungen sollen die Abläufe harmonisch wirken. Fedrizzi demonstriert mir eine «Kata», eine Choreografie aus Schritten und Stellungen. Er bewegt sich zuerst geschmeidig wie eine Katze über den Asphalt, dann wirbelt er wie ein Tänzer herum. Seine Schläge gegen einen virtuellen Gegner sind ebenso präzise und kontrolliert. «Mit Gewaltanwendung hat das gar nichts zu tun», antwortet er auf meine Frage. Vielmehr ist das Koordination und Körperbeherrschung, hundertfach geübt. Ich weiss nun, wieso er von Kampfkunst spricht.
Mehr Selbstvertrauen im Alltag
Markus Fedrizzi, 54 Jahre alt und durchtrainiert wie nicht mancher 20-Jährige, übt schon seit Kindesalter verschiedenste Kampfsportarten aus. In Hapkido, Kung-Fu und Judo besitzt er den zweiten Dan, im JiuJitsu den blauen Gurt. Seit 30 Jahren ist er als Coach tätig und auch ausgebildeter Mentaltrainer. Seine von ihm entwickelte Kampfsportart Chong-Do gehe weit über das Training hinaus, sagt er. Es sei auch eine Art Lebensweg und helfe, das Selbstvertrauen zu stärken. So übt er mit den Kindern auch Atemtechniken, macht mentales Training und Konzentrationsübungen. Denn wer aufrecht durch den Alltag geht statt in einer Bücklingshaltung, signalisiert Stärke und fühlt sich besser, lerne ich zum Abschluss. Und nehme mir vor, mich künftig mehr darauf zu achten.
Der Muskelkater am nächsten Tag schlägt dann wuchtig zu und hemmt meinen Vorsatz aufs Erste. Ich schleiche eher ins Büro statt zu stolzieren. Ganz unauffällig übe ich ab und zu unter dem Pult einen Kick Richtung Papierkorb.