Was passiert auf einem gewöhnlichen Sitzplatz im Bus und wer lässt sich dort nieder? Auf einer Fahrt von Ettiswil nach Luzern und zurück will ich das heute herausfinden. Ich bin unterwegs mit der Linie 61, der längsten Buslinie im Kanton Luzern. Eine Reise über 32 Kilometer mit 31 Haltestellen, Fahrzeit 52 Minuten.
Ein Freitagmorgen in der Ferienzeit. Der Bus in Ettiswil steht bereit. Punkt 7 Uhr startet der Fahrer den Motor, die Fahrt mit Ziel Luzern geht los. Ich beobachte das Viererabteil hinten links. Eigentlich ein Sitzplatz wie jeder andere auch – dunkles Polster gesprenkelt mit farbigen Punkten. Doch wer sich hier niederlässt, nimmt einiges auf sich: direkt dahinter vibriert der Motor und es ist lauter als sonstwo im Bus. Und die Abwärme der Maschine macht den Sommertag noch wärmer. Als Entschädigung gibt es viel Beinfreiheit. Und Sicherheit: am Fenster hängt der Notausstieg-Hammer, über dem Abteil eine Kamera. Ob das die Gäste wahrnehmen?
Stille im Bus, Musik in den Ohren
Wer im Bus das Viererabteil wählt, riskiert schon bald Gesellschaft zu erhalten. Will man das nicht, wählt man einen Zweiersitz und legt seine Tasche demonstrativ auf den anderen Platz. Das signalisiert: Solange es noch andere Plätze hat, bitte nicht hierhin setzen. Bei der Abfahrt in Ettiswil ist das noch nicht nötig: nebst mir sind nur vier Personen eingestiegen. Es herrscht Stille – zumindest äusserlich. In den meisten Ohren tönt wohl Musik. Die Augen der Reisenden sind geschlossen. Wer um diese Zeit in den Bus einsteigt, will in Ruhe gelassen werden.
So wohl auch die junge Frau, die in Ettiswil auf dem Stammplatz hinten links gemütlich Platz genommen hat. Schwarze Kleidung, Schal, rotglänzende Handtasche und weisse Ohrstöpsel.

Ich frage sie nach ihrem Ziel. Sie will frühmorgens zum Nägel machen. Auf meine Frage nach einem Foto für die Zeitung verwirft sie die Hände. «Nein! Heute lieber nicht. Ich bin nicht geschminkt.» Dann erklärt sie mir: «Sonst lasse ich mich jeweils sogar gerne fotografieren.» Sie – Saski, 26 – sei nämlich oft als «Rockabilly-Girl» unterwegs. Ein Modestil, der die 1940 und 1950er-Jahre aufnimmt. Sie zeigt mir Fotos auf dem Natel. «Morgen Abend siehst du mich so. In Aarau am Openair-Kino zeigen sie Elvis.» Den Platz im Bus hat sie zufällig ausgewählt, weil sie bei dieser Türe eingestiegen sei. Aber sie sitze gerne hinten irgendwo. In Buttisholz steigt sie aus und verabschiedet sich freundlich.
Den Sitzplatz übernimmt nun ein junger Mann. Dunkler Teint, adrette Kleidung, Kopfhörer im Retro-Stil. Kaum abgesessen schliesst er die Augen, sein Mobiltelefon hält er andächtig in den gefalteten Händen. Ich getraue mich nicht, ihn aus seinem Halbschlaf zu wecken. In Rüediswil sind alle freien Abteile im Bus belegt. Wer nicht stehen will, muss sich zu jemandem hinsetzen.Auch unser Stammplatz erhält Zuwachs. Eine junge Frau in kurzen Jeans und Fitnesstracker-Uhr setzt sich und tippt eine Weile wild auf ihrem Natel herum. Ob sie noch ihr Tagesprogramm plant?
Schlafen oder Hirnzellen aktivieren
Trotz 20 Fahrgästen im Bus ist es weiterhin andächtig still. Die meisten stellen sich schlafend. Bis in Hellbühl eine ältere Frau einsteigt und der jungen Sitznachbarin über ihr neues Malprojekt erzählt. Ihre Erklärungen ergänzt sie mit vielen Handy-Fotos. Sie spricht von der inneren Ruhe, die sie zum Malen brauche. Die anderen Mitfahrenden tun ihr diesen Gefallen und schweigen.
Die Fahrt geht auf die Autobahn, ich blicke gedankenverloren nach draussen: Ferienverkehr und Lastwagen fahren Richtung Süden. Plötzlich schaut ein Kind mit Taucherbrille durchs Fenster. Es ist der Lieferwagen einer Schwimmbad-Firma, der uns überholt. Kurz darauf taucht der Bus aus dem Stadttunnel an die Oberfläche. Am Kasernenplatz leeren sich die Plätze. In die Reuss zum Schwimmen geht wohl noch niemand um diese Zeit. Und auch der Wagenbachbrunnen beim KKL plätschert wenig später noch schlaftrunken vor sich hin. Am Nachmittag wird diese Abkühlung dann gefragt sein.

Am Bahnhof hat jemand die «20 Minuten» liegengelassen. Ich blättere durch. Darf man dies noch Zeitung nennen oder ist es nur Zeitvertrieb? Ihrem Namen wird sie nicht gerecht, sie unterhält mich keine 5 Minuten. Auch den Bildschirm im Bus kann ich nach kurzer Zeit auswendig: Ivana Trump ist gestorben, Valser bringt Flaschen ohne Etiketten, Graubünden will Wölfe abschiessen. Und ein paar verdrehte Buchstaben sollen die Hirnzellen am Morgen aktivieren. Aus NSCHMEEN werden nach einigen Sekunden Menschen. Davon hat es auf der Rückfahrt ins Rottal nur wenige im Bus. Wer will um diese Zeit schon aufs Land? Der Platz hinten links bleibt vorderhand leer. Der Fahrer fährt gemächlich, zu früh darf er nicht an den Haltestellen sein.
In Emmenbrücke steigen zwei Jungs zu und erobern zielstrebig das Viererabteil. Er sitze schon auf diesem Platz, seit er Bus fahre, sagt Jorge. «Es ist halt einfach gäbig hier». Er und sein Kollege Tom kommen aus der Fahrstunde. Beide hatten zufällig zur gleichen Zeit Unterricht. Sie diskutieren über den Fahrlehrer und die Autoprüfung. Tom hat schon 45 Stunden und kommt bald an die Prüfung: «Mein Fahrlehrer ist dafür bekannt, dass es etwas länger dauert.» Nun geht es für die beiden Lehrlinge wieder zurück an die Arbeit zur Siga.

Vorne sitzen die Älteren, hinten die Jungen
Beim kurzen Halt in Ruswil erklärt mir Fahrer Walter, wo die Stammplätze sind im Bus. Die Älteren wollen meist ganz vorne sitzen, am liebsten rechts neben dem Chauffeur. Sie würden gerne einen Schwatz halten mit ihm, aber eigentlich dürfe man das gar nicht während dem Fahren. «Ist halt eine Ablenkung.» Und während Corona habe man diese Sitze ja abgesperrt, was die Leute nicht schätzten. Die Jungen sitzen dafür meist weit hinten, erklärt er mir. Wieso weiss er nicht. Vielleicht drückt da noch die Schule durch. Je weiter hinten, je weniger wird man erwischt. Bei was auch immer.
In den nun fast leeren Bus steigt eine Frau mit Kinderwagen ein. Die Mutter am Telefon, der Kleine, geschätzt noch keine zwei Jahre alt, hat am Kinderwagen ein Tablet befestigt und drückt vergnügt auf den Bildschirm. «Schreib das dann auch», sagt mir Chauffeur Walter, «das ist ja gestört in diesem Alter schon!». Soll wohl den Kleinen beruhigen. In Ettiswil hätte es die Mutter nötiger. Der Kleine hat die Hosen voll, sie schreit ihn halb italienisch, halb deutsch an und kramt genervt eine Ersatzwindel hervor. Ich verlasse meinen Sitz der letzten zwei Stunden. Mein beobachteter Stammplatz wird an diesem Tag noch ein paar Mal nach Luzern und zurück fahren und so einiges erleben. Ein Platz im Bus bringt stets wechselnde Aussicht und viele interessante Begegnungen.

Kuriose Funde
Gefüllte Einkaufstaschen, PC-Bildschirm oder Kinderwagen, das alles wurde in den Bussen der Auto Rottal AG schon gefunden. Auch ein Gebiss blieb schon liegen, wie Geschäftsführer Andreas Boppart lachend sagt. Und sogar lebendige Funde gab es: «Das war eine lustige Geschichte mit einem Hund. Eine Dame stieg in Oberkirch mit ihrem Pudel aus und unterhielt sich mit einer Kollegin. Unbemerkt stieg der Hund wieder ein und fuhr nach Sursee. Sie meldete uns den Verlust und konnte ihren Hund auf der Rückfahrt des Busses dann wieder in Empfang nehmen.» Die Fundgegenstände-Klassiker sind Regenschirme, Handys und Portemonnaies. Täglich bleiben 1 bis 2 Gegenstände liegen. Auch spannende Holzgebilde – wahrscheinlich in der Berufsschule gefertigt – habe man schon gefunden. «Vielleicht wollten es die Schüler ja gar nicht nach Hause nehmen», meint Boppart. Was von den Besitzern nicht innert einer Frist abgeholt wird, wird verschenkt oder weggeworfen.
Am Steuer dreimal zum Mond
Hans Dula (69) ist Chauffeur bei der Auto Rottal AG. Und das mit Leib und Seele. Zuerst als Mechaniker, seit 27 Jahren besetzt er den Stammplatz vorne links. Der Ruswiler hat in dieser Zeit über 1 Million Kilometer abgefahren – das entspricht dreimal von der Erde zum Mond. Dula schätzt den Kontakt mit Fahrgästen: «Wer die Gäste mit einem Lachen empfängt, bekommt auch etwas zurück.» Trotz lockerer Atmosphäre: die Verantwortung sei gross, einen vollen Bus durch den Verkehr zu lenken. Man dürfe sich nicht stressen lassen, auch nicht durch den Fahrplan. «Zu Beginn holte ich bis 3 Bussen. Das hat mich gelehrt.» In bleibender Erinnerung hat er den grossen Stromausfall von 2005, als alle Züge ausfielen und die Wartenden in Luzern die Busse stürmten. Für das flexible Organisieren haben ihm später die Passagiere applaudiert. Seinen Lieblingsplatz besetzt er noch ein Jahr. Dann ist Schluss als Chauffeur. Und Dula wird wie alle anderen Passagiere einen Platz im Bus aussuchen. «Wo ich sitze, ist mir egal. Im Bus ist es überall schön.»
