Am 8. Mai 2021 kommt das bewegte Leben von Patrick Wicki (42) abrupt zum Stillstand. Auf einer Skitour stürzt er 30 Meter über eine Felswand und überlebt nur knapp. Sein Schädel ist mehrfach gebrochen, mit viel Glück bleibt seine Wirbelsäule ganz. Nach einem Jahr in der Rehaklinik kann der Sportler und Bewegungsmensch zurück in sein Zuhause. Bis zu seiner vollständigen Genesung ist es aber noch ein weiter Weg.
Nur wenige Patienten gehen aufrecht durch den Eingang des Paraplegikerzentrum Nottwil. Die meisten fahren mit dem Rollstuhl über die Schwelle. Patrick Wicki gehört zu den Aufrechten. Daran denkt er oft, wenn er in die Klinik kommt: „Ich habe grosses Glück gehabt, dass ich wieder gehen kann.“
Seit 6 Wochen kommt er zweimal pro Woche in die Klinik nach Nottwil. Es ist ein weiterer Schritt auf seinem Weg zurück in ein bewegten Leben. Ein Leben, in dem seit dem 8. Mai 2021 nichts mehr ist wie es mal war.
Eine Skitour mit fatalem Ende
Es soll eine lange Skitour werden an diesem Samstag. Mit seinem Auto fährt Patrick Wicki mitten in der Nacht von Ruswil nach Davos. Um 01.30 Uhr holt er dort seinen Kollegen Ruedi ab. In der Dunkelheit fahren Sie Richtung Flüelapass. Rasch sind die Skier angeschnallt und das Duo steigt auf Richtung Flüela Wisshorn. Die Verhältnisse sind prächtig, 70 cm Neuschnee, die Lawinenprognose mässig. Schon bald ist der Gipfel auf über 3000 Metern erreicht. Vor der ersten Abfahrt merkt Patrick Wicki, dass er seinen Helm im Auto vergessen hat. Er ärgert sich: „Ich hatte sonst immer einen Helm dabei. Öfters musste ich mir von meinen Begleitern Sprüche anhören, dass ich wieder unnötiges Gewicht mitschleppe. Ich habe mir noch lange Vorwürfe gemacht, dass ich ihn genau an diesem Tag vergessen habe.“



Die Tour führt über drei weitere Gipfel. Auf dem Rossdällispitz bricht ein kleines Schneebrett fast unter ihren Füssen ab. Und Kollege Ruedi verliert sein Natel, Patrick Wicki klettert in die Tiefe, um es zu holen. „Eigentlich wären das genügend Zeichen, dass etwas in der Luft lag. Doch wir wollten die Runde zu Ende bringen.“ Gegen 10 Uhr entfernen die beiden ein letztes Mal die Felle für die Schlussabfahrt. „Wir waren schon ziemlich kaputt und beschlossen, defensiv und langsam zu fahren.“ In der Ferne sehen sie schon ihr Auto. In einem steilen Stück geschieht es dann:
Sein Kollege Ruedi ist bereits unten am Hang und hört, wie Patrick Wicki über das Felsband stürzt. Er fliegt 30 Meter in die Tiefe und 70 Meter weit. Ruedi eilt zu ihm hoch, ruft noch auf dem Weg zu ihm die Rega an. Dann zieht er Patrick Wickis Zunge aus dem Rachen – er hat sie beim Sturz verschluckt und wäre daran erstickt.
Der Absturzort in der Nähe des Flüelapass

Schon nach 13 Minuten ist die Rega da. Wicki nimmt noch wahr, dass er sein rechtes Bein bewegen kann. Dann fällt sein Körper ins Koma. Die ersten 48 Stunden ist nicht sicher, ob er überlebt. Uns falls ja, ist nicht klar, ob sich der Bewegungsfanatiker jemals wieder bewegen kann. Er steht am Start zum anstrengendsten Wettkampf in seinem Leben.
„Ich habe auf der Überholspur gelebt“
Juli 2019: Patrick Wicki überquert als 12. die Ziellinie des Gigathlon. Knapp 24 Stunden war er alleine unterwegs, 368 km laufen, velofahren, schwimmen und inlinen. Die Strecke führt durch seine Heimat Entlebuch. In Schüpfheim stehen viele Kollegen der Skischule an der Strecke und feuern ihn an. Ein emotionaler Augenblick für ihn. Ebenso der Zieleinlauf in Sarnen, wo er seinen Sohn Flynn stolz mitträgt. Der Gigathlon ist nur einer von zahlreichen Wettkämpfen und Sportarten, die Patrick Wicki betreibt. Einfacher wäre aufzuzählen, was er nicht macht.

Er rennt Marathons, Städterennen, fährt mit dem Rennvelo über die Pässe oder reitet mit dem Surfbrett auf den Wellen. Er spielt im Handballclub. Im Winter zieht es ihn in die Berge, fast jedes Wochenende auf eine Skitour. Auch die Langlaufskier schnallt er sich an für den Engadin Skimarathon. Er nimmt an der Telemark-Schweizermeisterschaft teil und gibt nebenbei Skiunterricht. Als Turnlehrer an einer Mittelschule ist er sowieso jeden Tag in Bewegung.






Auch für die Gesellschaft engagiert er sich. Er leitet den lokalen Lauftreff, engagiert sich bei den ehemaligen Jungwächtlern, ist für die Mitte in der Bürgerrechtskommission und hat während der Corona-Zeit viele Aktivitäten in Ruswil organisiert. Dank ihm gewinnt die Gemeinde den Titel „Dorf des Jahres“. Seine Energie scheint unbegrenzt.
Wicki sagt von sich, er habe auf der Überholspur gelebt. Es sei eine Art Sucht, beim Sport die Endorphine zu spüren. Das exzessive Bewegen war auch ein Ventil, um Emotionen zu verarbeiten. So den Tod zwei seiner besten Freunde, die beim Schneesport ums Leben kamen. Patrick Wicki ist ein tiefgründiger Mensch, der sich viele Gedanken macht. Zeit dafür hat er nach seinem Unfall zur Genüge.
Sprechen, Essen und Bewegen: Wie sein Körper alles nochmals lernen musste
10 Tage nach dem Absturz wacht Patrick Wicki aus dem Komma auf. Seine Verletzungen sind gravierend: ein 4-facher Schädelbruch, eine Hirnblutung, ein Lungenriss und Schürfwunden. Wie durch ein Wunder sind keine Knochen gebrochen, auch die Wirbelsäule ist noch ganz. Trotzdem hängt sein Leben nochmals an einem seidenen Faden, als er sich im Spital einen Käfer holt, der zu einer Blutvergiftung führt.
Sein Körper aber kämpft und übersteht auch diese Prüfung. Und kommt schliesslich in die Reha Klinik in Basel für Patienten mit schweren neuronalen Verletzungen. Fast ein Jahr lang ist er dort und bringt seinem Körper wieder die elementarsten Dinge bei wie Essen, Sprechen und Bewegungen. Es sind kleine Schritte vorwärts und viele Schritte rückwärts. Immer wieder macht sich Verzweiflung breit. So auch an seinem „Glückstag“: Jeder Patient in der Reha Basel darf sich einen Tag aussuchen, wo er und die Familienmitglieder je 100 Franken geschenkt erhalten für ein Erlebnis. Er freut sich und besucht mit seiner Frau und den beiden Kindern den Basler Zoo. Doch unterwegs ist der Katheter von Patrick Wicki undicht, seine Hose wird durchnässt. Er fühlt sich erniedrigt und frustriert. Den Besuch holt er später noch einmal nach.
Es gibt aber auch schöne Momente. Patrick Wicki trifft in der Reha Freunde fürs Leben und kann sich mit ihnen austauschen. Er akzeptiert die kleinen Fortschritte und kann diese schätzen. Seine positive Lebenseinstellung hilft ihm und seinem Umfeld. Auch seine Frau Michelle (43) lernt mit dem Schicksal umzugehen:
Nach 4 Monaten hat sich die Hirnverletzung so weit erholt, dass der noch immer offene Schädel operiert werden kann. Das fehlende Stück wird mit einem 3D-Drucker konstruiert und ihm eingesetzt. Nun gehen die Fortschritte schneller voran. In der Logopädie lernt er wieder richtig sprechen, danach funktioniert auch Schlucken wieder.






Nach 334 Tagen in der Rehaklinik kehrt Patrick Wicki nach Hause zurück zu seiner Familie. Auf einem Schild vor dem Haus stehen sogar die vergangenen Stunden. Seine Frau Michelle und die beiden Kinder Flynn (4) und Malou (2) haben ihn sehnlichst erwartet. Die Familie wohnt abgelegen auf einem Bauernhof, mitten in der Natur und mit herrlicher Fernsicht. Auch für Patrick Wicki ist die Rückkehr nach Hause und in die Natur ein grosser Schritt zurück in ein normales Leben. Gleichzeitig weiss er auch, dass der Weg dorthin noch weit ist. „In meinem Marathon bin ich erst etwa in der Hälfte“, sagt er.
Wenn die Steuerung nicht richtig funktioniert
Die Rehabilitation geht auch daheim weiter. Täglich besucht Patrick Wicki eine Klinik in Luzern oder das Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Seine linke Seite, vor allem seine linke Hand ist noch immer gelähmt.
«Typisch Patrick», meint Physiotherapeut Jasper Loots, als sein Patient nach Übungsende trotzdem nochmals probieren will. Er spüre die ehemals gute körperliche Verfassung seines Patienten. Patrick Wicki selber sagt sogar, das habe ihm wohl das Leben gerettet. Er wirkt immer noch sportlich und trainiert. Doch seine Trainings finden auf engem Raum statt. Statt durch die Landschaft zu rennen müht er sich ab, auf einem Bein zu stehen und mit dem anderen einen Tennisball zu erreichen.
Kleine Bewegungen müssen mühevoll erkämpft werden. In der Handtherapie übt er mit Karen Schmuck, die Finger an der linken Hand zu krümmen. Ein feiner Stromfluss hilft, die Nerven zu stimulieren. Als er schliesslich eine Flasche Knutwiler Wasser mit der Hand umfasst, huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Er tut kurz so, als würde er die Flasche zum Mund führen. Durst löschen mit Isostar, wie das Ausdauersportler so machen.
Seine Hirnschädigung ist nicht so sichtbar als ein Bruch. Die Heilung aber dauert ein Vielfaches länger. Neuronale Verletzungen beeinträchtigen die Steuerung im Gehirn. Einige Bewegungen funktionieren, die exakte Koordination aber fehlt.
Auf dem langen Weg ins Ziel ist viel positives Denken nötig. Physiotherapeuten sind immer auch Psychotherapeuten – mit der Therapeutin Karen Schmuck unterhält er sich auch mal über Bündner Kraftorte.
Freiheit auf dem Vierradtöff
Freiheit und Bewegung prägten das vorherige Leben von Patrick Wicki. Nach seinem Absturz rückten die Begriffe in weite Ferne. Nun will er seine Unabhängigkeit zurückkämpfen und so viel wie möglich selber machen. Das spürt man auch bei ihn zu Hause, hoch über Ruswil. Für den Weg zur 4 km entfernten Bushaltestelle hat er sich ein Vierrad-Elektrogefährt zugelegt. Und damit ein kleines Stück Freiheit zurückgewonnen.
Sportliche Wettkämpfe will er irgendwann auch wieder bestreiten. Dabei aber „ganz hinten einstehen“ und die Rennen geniessen.

Und in den Bergen hat er ein konkretes Ziel: Zusammen mit seinem Freund und Lebensretter Ruedi mit den Skiern den Piz Linard besteigen, ein Gipfel in der Nähe des Unfallortes. Und so die Berge wieder zu seinem Kraftort machen.
