Ihre Stimme hat wohl fast jeder schon gehört. Trotzdem kennen nur wenige ihren Namen. Sprecherin Virginia Reis bringt in ihrem kleinen Studio Emotionen in Werbetexte und erweckt Trickfilm-Tiere zum Leben. Warum Schokolade essen dabei tabu ist und sie die Nachbarn schon mal bittet, aufs Rasenmähen zu verzichten.
Mal ist sie ein nervöser Hase, manchmal eine charmante Werbestimme, dann wünscht sie am Radio mit warmer Stimme einen guten Morgen. Virginia Reis ist professionelle Sprecherin und vertont Texte für Radio und Fernsehen. Ihr Gesicht kennt kaum jemand – ihre Stimme dürfte jedoch den meisten Luzernerinnen und Luzernern bekannt sein.

«Radio Pilatus – die bescht Musig. Kei Song doppelt.»
Radio Pilatus ist mit über 220 000 Hörerinnen und Hörern das grösste Privatradio in der Schweiz. Virginia Reis ist die sogenannte «Station Voice» des Senders. Zwischen Musikstücken, Werbespots und Nachrichten tönt immer wieder ihre Stimme. Sie spricht die «Jingles» und ruft bei den Zuhörenden in Erinnerung, welcher Sender gerade läuft. Das soll Nähe schaffen und die Marke Radio Pilatus stärken.
In einem unscheinbaren Haus am Waldrand in Hellbühl: Hier produziert die 47-Jährige Werbetexte, Radio-Jingles oder Hintergrundstimmen. Ihr Arbeitsplatz ist eine mattschwarze Box, die wie eine kleine Sauna in der Ecke des aufgeräumten Büros steht. Die Sprecherkabine hat Reis durch einen Zufall im Internet gefunden. Der Sänger Baschi hatte sie zum Verkauf ausgeschrieben. «Da habe ich gedacht: Yes!»
Seit 20 Jahren arbeitet Reis als Sprecherin, mittlerweile ist sie selbstständig. Und produziert täglich neue Audio-Ansagen. Sie bewirbt das neue Album von Marc Sway. Oder preist ein neues Deo von Nivea an. Zu hören ist sie in Trickfilmen und auf Anrufbeantwortern. Das Spezielle dabei: ihre Stimme ist überall präsent, ihr Name jedoch nirgends zu lesen. Genau das geniesst sie: «Es ist für mich eine Ehre, bei vielen Leuten jeden Tag mit der Stimme präsent zu sein.» Selber bleibt sie dabei lieber im Hintergrund.
Jede Stimme ist einzigartig und hat einen eigenen Charakter. Über das wichtigste Arbeitsinstrument von Virginia Reis steht in der Kartei der Sprecherinnen und Sprecher: «Stimmcharakter: Sympathisch, unaufdringlich, warm, wandlungsfähig freundlich, frech, sinnlich.»

«Erleben sie den Renault Capture vollkommen neu. So geht Elektromobilität für alle. Jetzt auch als Plugin Hybrid.»
Werbung soll Emotionen auslösen. Die Stimme hat da einen wichtigen Einfluss. Wenn Virginia Reis Werbetexte aufnimmt, soll sie eine ganz bestimmte Stimmung übermitteln. Sie sagt: «Wichtig ist: braucht es eine lüpfige Stimme? Oder eine sachliche? Und natürlich – wie viel Zeit habe ich?» Der Takt der Stimme soll dabei gut auf die Hintergrundmusik abgestimmt werden.
Manchmal fordern Auftraggeber vor einer Produktion Stimmproben an. Erst ein paar Tage vor der Aufnahme erfährt die Sprecherin dann, ob sie gewählt wurde. Grosse Firmen machen «Slave-Schaltungen»; die Stimme der Hellbühlerin wird live in ein Tonstudio geschaltet, wo Kunden, Werbeagentur und Tontechniker mithören. Reis spricht dann die Sätze in unterschiedlichen Tonlagen und Geschwindigkeiten. Es folgen Korrekturwünsche, oft nur kleine Details: Ein Wort soll anders betont oder die Aufnahme mit mehr Lächeln gesprochen werden. In der Kabine muss dazu absolute Ruhe herrschen. Starker Lärm dringt trotz gutem Schallschutz durch die Wände. Und so bittet Reis ihre Nachbarn schon mal, am nächsten Tag aufs Rasenmähen zu verzichten. Fliegt die Patrouille Suisse vom nahen Flugplatz Emmen, hilft jedoch nur eine neue Aufnahme. Schmuck trägt Virginia Reis in der mit dunklem Schaumstoff isolierten Sprecherbox keinen. Denn die hochempfindlichen Mikrofone zeichnen auch feinste Töne auf. «Eine kleine Mücke im Tonstudio klingt so laut wie ein Helikopter», lacht sie.

«Hunn Gartemöbel z’Bremgarte. Die gröschti Gartemöbel-Uswahl i de Schwiiz. Hunn ponkt ch.»
Ihre Stimme kommt gut an. Auch bei Radio Pilatus, für den Sender spricht sie seit über 20 Jahren. Auch Werbespots gehören dazu. Eine Aufnahme von «Hunn Gartenmöbel» dauert nur ein paar Sekunden und wird vor den Verkehrsmeldungen gesendet. Gekonnt und mit warmer Stimme spricht Reis die Worte ins Mikrofon. Durch das kleine Glasfenster sieht man in die Box. Reis steht beim Sprechen, bewegt sich und gestikuliert mit den Händen. «Die Emotionen brauchen Platz», sagt sie.

Bezahlt wird die Sprecherin pro Aufnahme. Ein paar Worte aufsagen und dafür Lohn erhalten – ist das leicht verdientes Geld? Reis schüttelt den Kopf. Zu einem Auftrag gehöre oft auch die Nachbearbeitung. «Ich befasse mich mit Equalizer, Kompression, Schneiden.» Sie zeigt auf den grossen Bildschirm, wo sich eine Vielzahl von farbigen Linien wie ein abstraktes Gemälde präsentieren. Es sind verschiedene Tonspuren der Aufnahme. Das geübte Auge erkennt da unsaubere Stellen. «Atmer» vom Luft holen und kleine Schnitzer schneidet
sie heraus. Tabu vor einer Aufnahme sei Kaffee trinken oder Schokolade essen. Das führe zu vielen «Schmatzern» beim Sprechen.
Viel Nachbearbeitung braucht es bei der Vertonung eines Werbefilms, den sie zurzeit bearbeitet: Ein Schulungsvideo für ein Gerät, das bei Hunden frühzeitig Tumore erkennen soll. Der Text strotzt von komplizierten Fachausdrücken. «Zungenbrecher», sagt Virginia Reis. Und liest einen Satz vor: «Senden Sie zur popiertären…ähhh…zur proprietären Clouddatenbank…». Der Text geht über mehrere Seiten. Für jede Stelle ist markiert, wie viele Sekunden sie dauern darf. Im Video spricht eine Frau in einer anderen Sprache, die Stimme von Virginia Reis wird darübergelegt. «Voice Over» heisst das im Fachjargon.

**fiepsende Stimme**
«Hallo – ech be d’Emelie Erdbeer. Du muesch kei Angscht haa.»
Vom sachlichen Erklärvideo zum heiteren Trickfilm – dieser Kontrast ist Alltag in der Sprecherkabine. Kürzlich durfte Reis ein lustiges Kinderhörspiel für den Guetzlihersteller Wernli aufnehmen. «Solche Aufträge sind cool», sagt sie. Sie ist Off-Stimme und imitiert gleichzeitig vier Tiere: einen nervösen Hasen, ein ängstliches Pony, die Chocoly-Kuh und ein ruhiges Schaf. Vor der Aufnahme experimentiert Reis und versucht, den Charakter der Tiere mit ihrer Stimme wiederzugeben. Sogleich demonstriert sie ihr Können. Ein hyperndes Karnickel sagt rasend schnell: «Jo secherimfall, chanigrad mache, zackzackzack». Bei solchen Aufnahmen habe sie es sehr lustig in der Kabine, sagt sie und lacht. Wie ein Comedian, der innert Sekunden seine Mimik verändert, switcht sie zwischen den verschiedenen Stimmen.
Kommt auch ihre Tochter in den Genuss von lustigen Gute-Nachtgeschichten? «Na klar», sagt Reis. Es fliege schon mal ein leicht beklop..op..optes Einhorn rückwärts und ein seeeeeeehr laaaangsaaam sprechendes Schnäggli krieche herum. Weniger lustig fände es die Tochter, wenn sie in der Schule im Deutsch-Hörbuch auch dauernd die Mutter höre.

«Du atmest ein.» PAUSE. «Du atmest aus.» «Du spürst deinen linken Zeh.»
Die Stimme charakterisiere einen Menschen. sagt Virginia Reis. Sie achte bei anderen sehr auf deren Stimme, das sage viel über die Person aus: «Die Stimme ist ein Spiegel der Seele.» Als Sprecherin muss Reis unterschiedliche Stimmungen annehmen können.
Doch wie schafft man das, wenn einem selber vielleicht ganz anders zumute ist? Reis sagt: «Sobald ich in die Box gehe und die Türe schliesse, bin ich in meiner eigenen Welt und kann alles um mich herum ablegen. Wenn ich den Radio-Hörern frohe Weihnachten wünsche, dann meine ich das genau so. Das kommt wirklich von Herzen.» Man höre der Stimme an, ob der Sprechende dabei lächle. So meditiere sie auch mit, wenn sie den Text für eine Yoga-CD aufnehme.
Die Stimme sei ihr schon immer wichtig gewesen, sagt sie. Gemerkt habe sie das, weil sie schon als Kind den ganzen Tag gesungen habe: «Zu Hause, auf dem Ritiseili, einfach überall». Auch heute noch singe sie den ganzen Tag, wenn es irgendwie gehe. Alleine oder mit ihrer Tochter. «Musik tut mir einfach gut.»
Nach ihrer Ausbildung besuchte sie deshalb die Jazz-Schule in Luzern mit Gesang und machte eine Tanzausbildung. Später war sie Grafikerin, programmierte Internet-Spiele und Webseiten. Irgendwann ging es in ein Radio-Studio, wo sie ihr Faible fürs Sprechen entdeckte: «Ich habe es sofort geliebt!»

«Guten Tag. Momentan sind das Casino und die Gastronomie geschlossen. Gerne sind wir telefonisch für sie von acht bis zwölf Uhr erreichbar.»
Sie sei sehr achtsam ihrer Stimme gegenüber. Denn ohne sie könne sie nicht arbeiten. So trägt sie schon mal mitten im Sommer beim Bootsausflug einen Schal und muss dafür von Freunden ein paar Sprüche einstecken.
Sorge tragen zum Stimmorgan heisst auch, dieses mit Atemübungen immer wieder zu trainieren. Und vor Aufnahmen braucht es ein Aufwärmtraining: «Ein Tänzer springt auch nicht los, ohne die Muskeln vorher zu dehnen.» Reis lockert ihre Lippen: «Brrrrrr… lalelilolu… lalelilolu. Mamemimomu. Drrrrrr…». Sie muss schmunzeln ab den lustigen Geräuschen.
Lachen und damit Emotionen weitergeben kann die Sprecherin gut. Auch sich selber nimmt sie nicht immer allzu ernst. Sie erzählt zum Schluss, wie sie in einer Hotline für Computerprobleme 20 Minuten in der Telefonschlaufe wartete. Und dabei die ganze Zeit ihre eigene Stimme hörte: «Bitte haben Sie einen Moment Geduld, sie werden gleich bedient.» Das war selbst ihr zu viel: «Mit der Zeit habe ich meine eigene Stimme nachgeäfft». Und war in diesem Moment wohl ganz froh, dass die meisten Anrufenden nicht wissen, wer hinter der bekannten Stimme steckt.
Hinweis
Hörproben von Virginia Reis findet man auf ihrer Website unter www.virginia-voice.ch.