Ein kaputter Teppich oder eine Jesusfigur ohne Beine – Irene Geisseler spürt die Geschichten von alten Gegenständen auf und erzählt sie bei ihren Auftritten. Dabei fliessen im Publikum auch mal Tränen. Viele Emotionen soll auch ihre neuste Idee auslösen.
Der erste Protagonist in dieser Geschichte ist nicht Irene Geisseler, sondern ein Esel. Er steht ruhig vor dem Haus, senkt auf Kommando seinen Kopf, stupst mit der Nase wiederholt an den zusammengerollten Teppich, bis dieser drei Meter lang und rot leuchtend daliegt. Irene Geisseler steht nebenan, tätschelt das staubige Fell des Tiers und lächelt. Welche Idee hinter dem Kunststück von Esel Lars steckt, dazu später.
Ein Ort der Inspiration
Zuerst geht es für den Besucher über den roten Teppich, vorbei am prächtig bunten Garten mit hohen Sonnenblumen, violetten Malven und bunten Ringelblumen zum Bauernhaus, malerisch gelegen zwischen Ruswil und Buttisholz. Drinnen wirkt alles hell und einladend – so auch der alte Holztisch in der lichtdurchflutenden Küche. Der Tisch ist für Irene Geisseler Treffpunkt, Atelier und Ort der Inspiration. Kaum niedergesessen sprudelt es aus ihr heraus. Sie erzählt, von ihren Ideen, ihrer Lust am Kreativ sein und am Geschichten erzählen. Ihre blauen Augen leuchten dabei. Bald schon kommt sie auf ihre Rolle als Künstlerin zu sprechen. Ist sie überhaupt eine, fragt sie sich und sagt, manchmal wisse sie es selber nicht. Sie erzähle halt nur Geschichten, sagt sie fast schon entschuldigend, und habe nicht so viel zum Zeigen. Zwei Stunden später werden jedoch auf dem Tisch mehrere Bücher, Fotografien, alte Gegenstände und Backpapier liegen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Wenn Irene Geisseler spricht und sinniert, folgen sich die Ideen in dichtem Takt. Man hört ihr gerne zu. Denn sie wählt ihre Worte mit Bedacht, sammelt und sortiert leise ihre Gedanken, schaut mit klarem Blick umher.
Der Drang zum Erzählen
«Ich habe einen Drang zum Erzählen», sagt die 55-Jährige, «und ich berühre mit meinen Geschichten gerne die Menschen.» Sie erwähnt das Projekt Flickenteppich – ihre Masterarbeit an der Kunstgewerbeschule Luzern. Im Haus ihrer Schwiegereltern fand Irene Geisseler einen alten Teppich und steckte ihn in die Waschmaschine, wo er zu ihrem Erschrecken zerfiel. Doch dann entdeckte sie im Stoffgeklüngel alte Strümpfe und Streifen von Bettwäsche. Alte Textilien, die ausgedient hatten und in den Teppich gewoben waren. Irene Geisseler war fasziniert davon. An einer Live-Performance bügelte sie die Stoffe, hängte sie als lange Fäden an die Decke und erzählte Geschichten ihrer Herkunft. «Vieles im Leben ist verwoben», sagt sie, «ich versuche es sichtbar zu machen.»

Mit ihren Erzählungen haucht sie alten Gegenständen wieder Leben ein. Und sammelt dafür Spuren aus der Vergangenheit – so wie beim Abriss eines alten Bauernhauses auf dem Schübelberg. Sie war täglich vor Ort und staunte über die Relikte zwischen den alten Wänden. Darunter eine Jesus-Figur ohne Beine und ein Mauseskelett, das wie aufgebahrt auf einem Brett lag.
Und immer wieder sind es Geschichten, die ihr ältere Leute erzählten. Etwa über den sparsamen Umgang mit Materialien wie dem Bademänteli, das ausgedient zuerst zu Handtüchern zerschnitten wurde, dann zu Wasch- und Putzlappen und schliesslich noch als Polsterung für die Korbgriffe eingesetzt wurde. Ein Warenkreislauf, der in der heutigen Wegwerfgesellschaft kaum mehr vorstellbar ist. In den Erzählungen geht es auch um den beschwerlichen Alltag vor vielen Jahren. Oder um schwierige Schicksale. Da ist die Bauernfrau mit sechs Kindern, deren Namen alle von der Schwiegermutter bestimmt wurden. Die Erzählungen würden oft starke Emotionen auslösen.
„An jeder Erzählung weinen Leute aus dem Publikum.“
Ein altes Haus mit vielen Spuren
Viele Geschichten könnte auch das alte Bauernhaus erzählen. 2019 ist Irene Geisseler mit ihrer Familie hier eingezogen. «Es ist ein grosses Glück, dass wir es kaufen konnten.» Beim grossen Umbau liessen sie die Spuren der Vergangenheit bewusst stehen: die alten Balken sind sichtbar, im Holz finden sich Beilspuren und Nagellöcher. So ein Haus könnte auch im Ballenberg stehen, die liebevolle Einrichtung wirkt wie in einem Museum und trotzdem lebendig und modern.
Sinnbildlich dafür hängt ein schwarzes Wählscheibentelefon an der Wand. Es funktioniert immer noch, ihr Mann hat es an die digitale Leitung angeschlossen. Tatsächlich klingelt es während dem Gespräch mit lautem, schrillem Ton. Wer sie wirklich erreichen wolle, rufe darauf an, sagt Irene Geisseler lachend.

Die Telefongeräusche sind nicht die einzigen. Immer wieder tönt es vom alten Ofen her. Darauf stehen schön drapiert Gläser mit Tomatensugo, heute heiss eingefüllt, die Deckel knacken beim Abkühlen. Das Gemüse kommt frisch aus dem Garten, es gibt gerade vieles zum Verarbeiten. Oder wie es Irene Geisseler formuliert: etwas sammeln und für später aufbewahren. Dazu gehören auch Heilkräuter, die sie zu Salben verarbeitet.
Mit 42 Jahren wird sie Kunst-Studentin
Trotz viel Arbeit und Ideen, Irene Geisseler versucht achtsam und langsam durch den Alltag zu gehen. In ihren Worten spiegelt sich eine Dankbarkeit für das Leben. Immer wieder erwähnt sie ihren Mann, Geschäftsführer einer Elektrofirma, der ihr vieles ermögliche. Sie verheimlicht aber auch nicht, dass es dazu viele Gespräche und Diskussionen braucht. So auch damals, als sie, gelernte Kindergärtnerin, mit 42 Jahren vorhatte, die Hochschule für Design und Kunst zu absolvieren, die jüngste Tochter erst zehn Jahre alt. Sie fand Unterstützung und Motivation bei ihrem Mann und den vier Kindern. Auch als sie kurz vor dem Abschluss «den Bettel hinschmeissen» wollte, weil ihr alles zu viel wurde. Ihre Kinder sagten ihr damals: «Du hättest uns nie erlaubt, so kurz vor dem Ende aufzugeben.»
Ein Kompost voller Ideen
In ihrer Ausbildung probierte sie verschiedene Kunstformen aus – Video-Installationen, Fotos, Live-Performance. Eher zufällig entdeckte sie das Faible fürs Erzählen. Die Art, wie sie ihre Arbeiten präsentierte, gefiel den Zuhörenden, und ihre Dozierenden ermunterten sie, doch ihre Geschichten zu Kunstwerken zu machen.
«Ich dachte zuerst, ich bin doch nicht Trudi Gerster.»
Mittlerweile hat sie schon Ausstellungen mit Geschichten realisiert und erzählt sie immer auch wieder live, zum Beispiel in ihrer Scheue vor einer Gruppe von Finanzfachleuten. Die Inspirationen dafür fallen ihr quasi in den Schoss. Sie sei keine Schatzsucherin, sondern eine Schatzfinderin: «Ich suche nicht, es fällt mir zu. Die Dinge rufen mich.» Schon als Kind hätten sie die alten Dinge angezogen. Sie wollte Archäologie studieren oder Kunst, «nun mache ich beides.»

Sie sieht Spuren auf einem Backpapier, sammelt diese und will daraus irgendwann einmal Bilder oder Fotos produzieren. «Irgendwann», das Wort fällt öfters. Die Menge an Ideen überfordere sie regelmässig, sagt Irene Geisseler, «doch ich kann nicht anders.» Wird es ihr zu viel, deponiert sie die Einfälle auf einem gedanklichen Kompost. «Wo sie eine Weile ruhen, vergären, bis daraus wider etwas wertvolles entsteht.»
„Ich wollte Archäologin oder Künstlerin werden, nun bin ich beides.“
Bauch- und Liebesgeschichten
So wie die alten, bauchigen Mostflaschen, 30 bis 40 Stück stehen schon lange in der Scheune. «Mein Mann meinte, wenn ich sie nicht bald verwerte, kommen sie weg», sagt sie lachend. Ideen dafür hat die Künstlerin: Eine Hör-Installation mit «Bauchgeschichten», die aus der Flasche erzählt werden, wenn man den Zapfen abnimmt. Die Gedanken gären schon eine Weile, manchmal brauche sie den Druck, damit sie ein Projekt starte. Nächstes Jahr an Fronleichnam plane sie mit ihren Studienkolleginnen eine Ausstellung in der Scheune. «Schreib das, dann muss ich es angehen.»

Noch weiter gediehen ist eine andere Idee, bei der Esel Lars wieder ins Spiel kommt. Als Traurednerin will Irene Geisseler zukünftig die Brücke zur jungen Generation schlagen. So organisiert sie Hochzeitszeremonien und erzählt die Liebesgeschichte des Paares. Einige Anlässe hat sie bereits organisiert und sich auch offiziell zur Traurednerin ausbilden lassen. Den roten Teppich für die frisch Vermählten soll jeweils Esel Lars ausrollen. Mit ihm zusammen will Irene Geisseler Brautpaare und Gäste berühren und nachhaltige Erinnerungen hinterlassen.