Während den Wintermonaten zieht Rolf Thalmann mit einer grossen Schafherde durch die Region. Was nach Idylle und einfachem Leben aussieht, braucht viel Erfahrung und gute Planung.
Die Grasbüschel sind gefroren, Schnee überzieht die Wiesen an diesem Morgen. Der Nebel hängt über den Feldern, die kühle Luft bringt den Winter hier in der Nähe des Ruswiler Weilers Etzenerlen nochmals zurück. Hirte Rolf Thalmann hat seine Jacke hoch ins Gesicht gezogen, Kappe und Kapuze über dem Kopf. Die Schafe zupfen das Gras durch die Schneedecke, stehen weit verteilt auf der Wiese. Zwei Tiere wagen sich ein paar Schritte auf den benachbarten Acker. Thalmann ruft «Go, Diego», der Hund spurtet davon, macht einen grossen Bogen und nimmt dann Kurs auf die Abtrünnigen. Noch bevor der Hund die Schafe erreicht, ziehen sie sich wieder aus dem verbotenen Terrain zurück. Hund Blake legt sich nieder, der Hirte lobt ihn kurz und lächelt entspannt. Kein Gebell und kaum Geblöcke stören die friedliche Szenerie. Alles wirkt routiniert und eingespielt.

Viel Erfahrung für eine «simple Arbeit»
Seit drei Monaten ist der 40-Jährige als Wanderschäfer unterwegs. Von Schwarzenberg, wo er die Tiere übernommen hat, zog er über Malters und Emmenbrücke nach Sempach, der Rückweg führt ihn via Nottwilerberg nach Ziswil und zurück nach Schwarzenberg. Er führt die Schafherde, die der Familie Vogel in Schwarzenberg gehört, Bauer und Wanderschäfer Ernst Vogel verstarb vor einem Jahr. Ihn hat Rolf Thalmann andere Jahre begleitet oder abgelöst, in diesem Jahr ist er nun alleine für die Herde verantwortlich. Diese ist schon kleiner geworden: 300 Weidelämmer sind schon beim Metzger, nun ziehen noch etwa 600 Schafe mit dem Hirten durchs Land. Es sei ein bunter Haufen an Rassen und Farben, sagt Thalmann und zählt auf: Weisses Alpenschaf, Walliser Bergschaf, Bergamasker, Spiegelschafe und viele mehr. Bei Schafen gäbe es viele Kreuzungen, da man typische Fleischrassen, die schnell an Gewicht zulegen, mit robusten Rassen, die zweimal im Jahr Nachwuchs haben, zu kreuzen versuche.
«Lay down, hey Diego, lay down!» Wieder hallt das Kommando auf englisch durch den Nebel. Der Hund legt sich wieder hin, bereit für den nächsten Auftrag. Blake, der zweite Hund, wartet derweil an der Leine beim Hirten. Die Hunde sollen so wenig wie möglich eingesetzt werden, erklärt Rolf Thalmann. Sie würden sonst nur Unruhe in die Herde bringen.
Der Hirte strahlt eine grosse Ruhe aus. Er spricht mit Bedacht, wirkt entspannt und sieht trotzdem immer, was sich in der Herde gerade tut. Und er lacht gerne, immer mal wieder blitzt der Schalk auf in seinen Augen. Etwa wenn er sagt, die Arbeit sei eigentlich simpel, er stehe ja oft einfach herum und schaue den Schafen zu. «Ich muss schauen, dass sie genügend zu fressen haben, zusammenbleiben und am Abend einen Schlafplatz finden.» Doch dafür ist viel Erfahrung und Planung notwendig.
Thalmann ist den dritten Winter mit dieser Herde unterwegs, mit Tieren hat er jedoch seit langem zu tun. So hat er nach der KV-Lehre und einem Studium als Umweltingenieur einem Schäfer im Thurgau geholfen, er arbeitete auf Bauernhöfen mit, geht im Sommer auf die Alp und nimmt immer wieder Gelegenheitsjobs an. Vieles sei learing by doing, ausser wenigen Tagen Hirtenausbildung hat er sich sein Wissen selber beigebracht. Der in Emmenbrücke wohnhafte sagt, er sei gerne sein eigener Chef und schätze es, nach ein paar Monaten wieder etwas anderes zu machen.
Tägliche Routenplanung und Absprache mit den Bauern
Auf der Karte plant Thalmann jeden Morgen die Strecke, geht bei Bauern vorbei und fragt, wo seine Herde durchziehen oder weiden darf. Die meisten Landwirte seien ihm sehr wohlgesinnt. Der Kanton Luzern regelt das Treiben von Wanderschafherden mit einer Bewilligung und vergibt die Wandergebiete. Thalmann berücksichtigt für die Routenwahl, welche Felder genügend Nahrung hergeben, wo bereits Gülle ausgebracht wurde und wo es Gefahren gibt. Dazu gehören Bahngleise oder Strassen. Deren Überquerung sei eigentlich problemlos, zusammen mit Helfern und den Hunden dauere es nur wenige Minuten. Heikler sind Äcker, die nicht betreten werden dürfen oder grosse Nässe auf den Wiesen. Dann würden die Schafe mehr Spuren hinterlassen. Lieber sind ihm Schnee und gefrorene Wiesen wie an diesem Tag.

Der Alltag der Schafe besteht aus Fressen, Liegen und Wiederkäuen. Ist eine Wiese abgegrast, zieht es die Herde weiter. Ist es kälter, brauchen die Schafe mehr Energie und sind hungriger. In der Nähe von Höfen muss der Hirte deshalb gut aufpassen, dass die Tiere nicht von Strohballen oder Gemüsekulturen fressen. Das Mittagessen des Hirten fällt dagegen oft spärlich aus: vorgekochtes aus dem Tupperware, bei schlechtem Wetter auch mal im Auto, wo er sich wieder aufwärmt. Nur selten gebe es eine Einladung an einen Tisch. Ist es ein einsames Leben mit den 600 Schafen unterwegs? Man müsse gerne mit sich alleine sein und Einsamkeit aushalten, sagt Thalmann. Soziale Kontakte zu pflegen sei bei dieser Arbeit nicht so einfach. Dafür besuchen ihn Bekannte immer mal wieder draussen auf dem Feld. Und einige Jugendliche aus der Region begleiten und unterstützen ihn tageweise. Dann kann er auch mal von der Herde weg und Einkäufe erledigen.
Keine Angst vor dem Wolf
Die Nacht verbringt der Schäfer zu Hause, auch die beiden Hunde nimmt er mit. Die Schafe werden fürs Nachtlager eingezäunt. Angst, die Schafe alleine zu lassen, hat der erfahrene Hirte nicht, trotz verschiedenen Wolf-Vorfällen in der Gegend. Er schütze die Tiere wie empfohlen mit einem Elektrozaun von 1.05 Meter Höhe, ausnahmsweise auch mal mit einem zweiten Zaun. Bisher habe es so zum Glück keine Probleme gegeben.
Doch die Sorge um die Schafe ist immer da. Rolf Thalmann hat die Tiere gerne und behandelt sie respektvoll, obwohl er nicht jedes einzelne kennt. Es braucht ein feines Sensorium, um kranke oder verletzte Tiere rechtzeitig zu erkennen. Auch die Klauenkrankheit grasiert immer mal wieder und muss behandelt werden.
Trotz Tierliebe: der Auftrag für den Schäfer ist klar, in seiner Obhut sollen die Schafe viel Fleisch ansetzen, bevor sie zum Metzger kommen. Er selber ernährt sich dagegen meist vegetarisch. Nur selten beisst er in eine getrocknete Schafwurst – aus der «eigenen» Produktion. Da wisse er, dass die Tiere ein schönes Leben hatten und gut gehalten wurden.
Eine Fernwanderung durchs Land der Schafe
In seiner Zeit als Wanderschäfer hat Rolf Thalmann nur wenig freie Zeit: nur neun Tage stand er seit Anfang Dezember nicht auf dem Feld. Die Präsenzzeiten sind hoch, der Lohn nicht gross. Warum zieht es Thalmann trotzdem jedes Jahr im Winter wieder hinaus? «Ich bin einfach gerne draussen in der Natur, wo ich mit den Schafen und Hunden arbeiten kann.»

Doch für diese Saison ist Schluss, in diesen Tagen gibt er die Herde wieder zurück. Thalmann ist froh: «Es genügelt mir dann jeweils nach dreieinhalb Monaten immer um die Schafe.» Nun freue er sich auf ein paar freie Tage. Und dann ist ein grösseres Projekt schon geplant: im April geht es für zwei Monate auf eine Fernwanderung nach Schottland – ins Land der Schafe.